Über Surfen, Hirnerschütterungen und Kopfverletzungen

Vor ein paar Tagen sprach die Big-Wave-Surferin Paige Alms im Waterpeople-Podcast1 über Gehirnerschütterungen und Hirnverletzungen. Sie inspirierte mich, mein Wissen zu teilen und einige wirksame Behandlungsmöglichkeiten für Verletzungen des Gehirns, des Kopfes und des Nackens vorzustellen.

Meine Recherchen führten zu vielen Geschichten von Big-Wave-Surfer, die darum kämpfen, sich von schweren Gehirnerschütterungen und traumatischen Hirnverletzungen (TBI) zu erholen. Mercedes Maidana erlitt einen Schlag von ihrem Bord an der Stirn, Shawn Dollar brach sich an einem Felsbrocken unter Wasser das Genick, Jeremy Flores prallte gegen das Riff, die 15-jährige Harley Taich wurde auf harten Sand geschleudert und Owen Wright überlebte nur knapp ein Wipeout bei Pipeline (bekannter Surfbreak in Honolulu) mit einer Hirnblutung und einer Gehirnerschütterung. Die Liste liesse sich beliebig fortsetzen. Für die meisten verletzten Surfer ist der Heilungsprozess sehr herausfordernd und dauert Monate, wenn nicht Jahre.

Sie müssen kein Profi-Surfer sein und nicht die grössten Wellen abreiten, um ernsthafte traumatische Verletzungen an Kopf, Nacken oder Brustkorb zu erfahren. Surfer sind risikofreudige Sportler und verletzen sich oft, wenn sie an ihre persönlichen Grenzen stossen. Wenn Sie zur falschen Zeit am falschen Ort sind, wird Ihnen selbst eine mittelgrosse Maui-Northshore-Welle eine Lektion erteilen, die Ihr Körper nicht so leicht vergessen wird. Im Jahr 2015 befragte Christian Swinney eine Gruppe von Freizeitsurfern in den USA2: 70 % erlitten leichte bis schwere Kopfverletzungen. Meistens werden diese Verletzungen heruntergespielt und die Menschen sind sich nicht bewusst, wie sehr ihr Gehirn langfristige gesehen darunter leidet. Langzeitfolgen traumatischer Einwirkungen auf das Gehirn werden noch immer wissenschaftlich untersucht. Wir haben von Profiboxern gelernt, dass wiederholte Gehirnerschütterungen höchstwahrscheinlich zu früher Demenz, Parkinson und Depressionen führen. In den letzten Jahren haben NFL-Football Spieler viel Aufmerksamkeit für das „Posttraumatische Gehirnerschütterungssyndrom“ geschaffen und die Welt mit den Herausforderungen der Langzeitfolgen von Gehirnerschütterungen im täglichen Leben vertraut gemacht.

Anzeichen und Symptome von Gehirnerschütterungen
Es ist wichtig zu wissen, dass Sie Ihr Gehirn verletzen können ohne das Bewusstsein zu verlieren. Kopfschmerzen, Müdigkeit, Reizbarkeit, Schwindel, Gehirnnebel, langsame Reaktionszeiten und Schlafstörungen sind häufige Symptome im Zusammenhang mit leichten Gehirnerschütterungen. Verletzten Athleten wird geraten, sich körperlich und geistig auszuruhen und auf Alkohol und Beruhigungsmittel zu verzichten. Es ist am besten, alle Aktivitäten, die Konzentration oder Aufmerksamkeit erfordern, einzuschränken. Ihr Gehirn wird es Ihnen verdanken, wenn Sie nicht Auto fahren, fernsehen, Videospiele spielen, SMS schreiben oder lesen. Die Symptome einer Gehirnerschütterung treten oft nicht sofort auf und scheinen dann innerhalb weniger Wochen wieder zu verschwinden, wenn die Auswirkungen nicht zu dramatisch waren. Ruhe allein reicht nach meinen klinischen Erfahrungen jedoch nicht aus, um sich von einem traumatischen Unfall vollständig zu erhholen. Die Energie des Aufpralls wird in den Geweben des Körpers eingeschlossen und wird im Laufe der Zeit dauerhafte Langzeitsymptome verursachen; die Beschwerden sind dann oft genereller und scheinen entfernt vom Ort des tatsächlichen Aufpralls aufzutreten. Mit jedem neuen Trauma werden diese eingeschlossenen Energien reaktiviert und können noch mehr Probleme für Gehirn und Körper verursachen.

Die Folgen eines traumatischen Aufpralls
Es ist viel Physik erforderlich, um zu verstehen, wie traumatische Energie unseren Körper beeinflusst. Die wichtigste Tatsache ist, dass Energie nicht zerstört werden kann. Energie wird nicht einfach verschwinden; sie wird in Bewegung, Verformung und Wärme umgewandelt. Je schwerer ein Objekt ist und je schneller es sich bewegt, desto grösser ist die Energie des Aufpralls bei einer Kollision. Wir haben alle gelernt „Impuls gleich Masse mal Geschwindigkeit“  (p = mv). Beschleunigung und Trägheit, sowie Aufprallwinkel und Ort des Aufpralls entscheiden wie schwer eine Verletzung tatsächlich sein wird. Je härter die Oberfläche und je kürzer die Einwirkzeit, desto grösser der körperliche Schaden. Helme versuchen uns zu schützen, indem sie die Dauer des Aufpralls verlängern. Ein Sturz auf weiches Gras tut weniger weh als ein Sturz auf harten Beton. Ab einer gewissen Geschwindigkeit wirkt die Wasseroberfläche sogar härter als Beton. Was uns zuerst auffällt, sind offene Wunden, schmerzhafte Prellungen und Schwellungen – die primären Läsionen an der Aufschlagstelle sind kaum zu übersehen. Aber vor unseren Augen passiert noch viel mehr! Jeder traumatische Aufprall erzeugt eine mechanische Welle, die sich durch unseren Körper in verschiedene Tiefen und Richtungen ausbreitet, von Gewebe zu Gewebe, bis sich ihre Energie auflöst. Jedes Mal, wenn die Stosswelle durch eine andere Gewebeschicht wandert, verliert sie Energie und der Körper absorbiert einen Teil davon. Energie kann leicht und schnell durch Knochen transportiert werden – so dass diese oft am gegenüberliegenden Ende des Aufpralls, da wo sich die Wirkung der Kraft kumuliert, brechen. Dichtes, hartes Gewebe überträgt Energie besser als weiches Gewebe. Mit anderen Worten, die Weichteile absorbieren die meiste Energie. Strukturen wie Gehirn, Organe, Nerven, Muskeln und Bänder haben daher ein höheres Risiko für kleine Risse und Verletzungen und sind somit prädestiniert für die Bildung von Narbengewebe. Die kinetische Energie verbleibt in den Geweben unseres Körpers und wird im Laufe der Zeit dynamische Veränderungen bewirken. Tage oder sogar Wochen nach dem Aufprall beginnen sich sekundäre Symptome zu manifestieren. Der Heilungsprozess wird plötzlich noch komplizierter, noch schwieriger.

Wirksame Behandlung von Gehirnerschütterungen und Kopfverletzungen
Im Jahr 2017 führte einer meiner Lehrerinnen eine Studie mit 11 pensionierten NFL- und CFL-Football Spielern durch. Sie alle wurden mit posttraumatischem Gehirnerschütterungssyndrom diagnostiziert. Gail Wetzler und ihr Team3 wollten die Wirkung von drei sanften, aber spezifischen manuellen Therapien evaluieren, die strukturelle, vaskuläre und neurologische Gewebe von Schädel und des Gehirn erreichen können. Craniosacrale Therapie (CST), Viszerale und Neurale Manipulation (VM und NM) sind in der Lage, chronische Symptome und weitreichende Auswirkungen anzugehen, die sich nach einem Trauma im ganzen Körper manifestieren. Mit diesen Modalitäten wurde versucht, Immobilität, Schmerzintensität, Schlafstörungen, Hirnleistung und Lebensqualität zu verbessern. Jeder Patient erhielt zehn 2-Stunden-Sitzungen. Die Symptome wurden nach jeder Sitzung neu bewertet und 3 Monate später war ein statistisch signifikante Verbesserungen auf allen Ebenen zu erkenne: Die Schmerzen im Allgemeinen und die vom Nacken herrührenden Schmerzen im Speziellen nahmen merklich ab, die durchschnittliche Reaktionszeit und das Gedächtnis verbesserten sich und die Beweglichkeit der Halswirbelsäule war sichtlich grösser. Der Schlaf verbesserte sich am deutlichsten – die Probanden schliefen 2 Stunden mehr nach dem ersten Behandlungstag und bis zu 4 Stunden mehr nach 3 Monaten.

Die Studie von Gail Wetzler zeigt, dass selbst Jahre nach dem Gehirnerschütterungen ihre Spuren in unserem Körper und Gehirn hinterlassen haben, Craniosacral-Therapie, viszerale und neurale Manipulation den Genesungsprozess unterstützen und die Lebensqualität von Menschen mit posttraumatischem Gehirnerschütterungssyndrom verbessern können.

Ich persönlich glaube, dass das Freisetzen unerwünschter traumatischer Energie aus dem Körper einer Person dazu beitragen, die Funktion des Gehirns und Nervensystems zu verbessern und hoffentlich zukünftige Langzeitfolgen wie frühe Demenz, Parkinson oder Depressionen zu verhindern.

Der französische Osteopath Jean-Pierre Barral, der Gründer von VM und NM, erinnert uns Therapeuten immer wieder daran, dass es sehr wichtig ist, auf das Gewebe des Patienten zu hören. Zellen erinnern sich an jedes einzelne Trauma unseres Lebens, die Menschen selber vergessen oft was alles passiert ist. Der Körper sagt immer die Wahrheit und führt uns zu den am meisten geforderten Bereichen – diese liegen oft nicht dort, wo wir sie erwarten.

Barbara Linger

1 Paige Alms: Unfurling fate, Waterpeople Podcast, 12. Oktober 2020 – Thema Kopfverletzung bei Minute 38:30.

2 Christian Swinney, BA: Assessing the Prevalence of Traumatic Head Injury amongst Recreational Surfers in the United States. Hawaii J Med Public Health. 2015 Dez; 74(12): 403-405, https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC4675365/

3 Gail Wetzler, Melinda Roland, Sally Fryer-Dietz und Dee Dettmann-Ahern: Craniosacral Therapy and Visceral Manipulation: A New Treatment Intervention for Concussion Recovery. Med Acupunct. 2017 Aug 1; 29(4): 239–248, https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC5580370/

Photo bei Peter Smith von FreeImage